Wachstum final

Wachsen durch Verzicht.

„Weniger ist mehr“ ist ein riskanter Satz. Behutsam abgewogen und in Bachblütendosierung dargereicht, wirkt er wohltuend. Auf Design, Architektur, Kunst, nein!, streichen Sie das, nicht Kunst. Lieber Kochen, Klamotten. Gartenbau! Vor allem da, wo das Auge mitisst, reicht das Wenige zur Vollkommenheit. Und in der Musik! Aber dazu später.
 
Gelangt aber nur ein Messerspitzchen zu viel des Wenigen in Umlauf oder in den falschen Kontext,
ist die gesamte Ursuppe vergiftet. Bäh! Nur der naive Trottel stellt sich hin und behauptet mit der leicht kieksigen Redenerstimme eines Grünenpolitikers in den frühen 80ern: weniger Speicherplatz, weniger Megapixel, weniger Zoll Bildschirmdiagonale, weniger PS, Quadratmeter Wohnfläche, ja sogar weniger Monatseinkommen, Vermögen, Umsatz, Gewinn, Wirtschaftswachstum könnten am Ende, also unterm Strich, möglicherweise ein Mehr an Wasauchimmer bedeuten. So ein Malheur! Ein Hauch zu viel eines an sich schönen Gedankens, und die Diskussion driftet ab in völlig absurde und inakzeptable Wachstumskritik.
 
Wachstum! Wer mag daran zweifeln? Muss man sich doch nur mal im Garten umsehen. Alles wächst. Bäume, Blumen, Gras, zugegebenermaßen auch das Unkraut. Und die Kinder! Sie wachsen gedeihen, dass es eine Freude ist. Folgerichtig muss auch der Hausrat mitwachsen, und mit ihm der Wohnraum, das Auto, das Einkommen, das Unternehmen, die Weltwirtschaft. Und schließlich (Strike!) wächst ja auch das Universum selbst. Es dehnt sich kontinuierlich aus bis, bis … nur nicht dran denken. Zugleich diese Sehnsucht. Zurück nach dem wohl schönsten, behütetsten Moment unseres Lebens: Nur ich und du, Mama, und 1,2 Liter Fruchtwasser. Best place to live. So einfach geht Glück.
 
Wachstum ist das Diktat des Lebens, daran ist nicht zu rütteln. Aber irgendwas ist doch faul daran, mal ganz ehrlich, aber was? Eine Antwort kam mir, wie so oft, beim Loslassen, unter nicht näher zu erläuternden Umständen.
 
Betrachtet man, unter der Annahme, dass Wachstum irgendwie Sinn hat, wachsende Organismen, beispielsweise den Menschen, so wird man feststellen, dass dieser nur für eine sehr begrenzte Zeit in die Höhe wächst und nach etwa 25% seiner durchschnittlichen Lebenszeit damit aufhört. Was dann folgt, könnte man Vervollständigung der Reife unter laufender Zellerneuerung, idealerweise gepaart mit dem Wachstum an Wissen und Erfahrungen, nennen. Was manchen Menschen mehr, manchen weniger gut gelingt. Wirtschaftsunternehmen wiederum reüssieren hier in allzu vielen Fällen überhaupt nicht.
 
Der gepflegte Wirtschaftsbetrieb will kontinuierlich wachsen, da ist er bockig. Fünf, acht, zwölf Prozent per annum müssen minimum drin sein, sonst zieht das Spiegelbild wieder diese mitleidige Versagermine. Dagegen betrachtet sich der Mensch, beispielsweise der einsvierundneuziggroße Mann mit Anfang Zwanzig zu Recht als ausgewachsen. Und er macht sich - im besten Zeugungsalter - mit einer sagen wir mal einssechsundiebzig großen Paarungswilligen möglicherweise Gedanken, wie man zum Kapitel Wachstum eine sinnvolle Fortsetzung schreiben könne. Sei es durch das vielzitierte Niemalsauslernen oder eben durch die strategische Fusion beider Körperbetriebe und anschließender Zellteilung und Gründung einer Filiale, die unter behüteten Bedingungen in aller Gelassenheit reifen darf. Nur weiter in die Höhe zu wachsen wäre keine Option. Wohl aber für den ehrgeizigen Unternehmer. Der träumt vom durch die Wolken schießenden Konzernriesen, der allen anderen auf die Köppe spuckt. Wie oft wird daraus jedoch nicht mehr als ein Lulatsch. Oder ein in die Breite ausufernder, unstillbar hungriger, durch die globalen Finanzplätze marodierender Klotz mit inzüchtigen Ablegern, die allesamt schon im viel zu jungen Alter Geld verdienen müssen anstatt lernen, reifen und Anstand erwerben zu dürfen.
 
Gegenentwurf im Kleinen: Ein Freund betrieb früher mal in Bielefeld eine Bar. Einmal im Monat wurde
das äußerst gut gehende Etablissement für den Publikumsverkehr geschlossen, um für alle Mitarbeiter
einen Trainingstag einzulegen, der sich „Formschönes Arbeiten“ nannte. Man erinnerte sich vielleicht daran, wie noch mal die Milch für einen perfekten Cappuccino fachgerecht aufzuschäumen
sei, nämlich mit einer Temperatur von maximal 60 Grad, leichten Auf-und-Ab-Bewegungen und anschließendem Abklopfen, durch den der Schaum an Dichte gewinnt. Dieser rituelle Akt, währenddessen die Angestellten voll bezahlt wurden, kostete das Unternehmen Zeit und... Umsatz. Aber es bescherte dem Unternehmen möglicherweise den nachhaltigen Ruf, den weltbesten Cappuccino Bielefelds, die saubersten Cocktailgläser der Stadt und das leckerste Käse-Schinken-Sandwich des Universums drauf zu haben. Ja, so war das. Nun aber, wie angekündigt, und zur weiteren Untermauerung meines Herzensthemas, ein musikalischer Exkurs: Beim Erlernen eines Instruments, nehmen wir mal die Gitarre, fängt jeder klein an, mit der C-Dur Tonleiter, weil die keine Vorzeichen hat, und dem D-Dur Akkord, weil der handsam zu greifen ist. Schnell wächst das Repertoire an spieltechnischen Möglichkeiten, und der halbwegs Talentierte dudelt nach ein paar Jahren schon munter in allen Tonarten, shredded Skalen rauf und runter und fegt vogelwild übers Griffbrett, dass dem Zuschauer schwindelig wird.
 
Danach erst trennt sich die Spreu vom Weizen, der Dudler vom Musiker, der Techniker vom Magier. Der Sprung über die Schwelle geschieht durch Reduktion. Oder durch die Erkenntnis, dass jedem Musiker des westlichen Kulturkreises ohnehin nicht mehr als 12 Töne Knetmasse zur Verfügung stehen. Die Kunst ist nun, nicht das daraus zu formen, was man technisch-theoretisch zu bewerkstelligen in der Lage wäre. Sondern nicht mehr als genau das zu spielen, was die größtmögliche Wirkung entfaltet. Ausdruck statt Eindruck. Ein Meister des von Sparsamkein getriebenen musikalischen Ausdrucks war Albert King, einer der drei Blues Kings. Wer sich interessiert, mag sich den Mitschnitt „Albert King - Blues Power“ vom 23.9.1970 auf youtube anschauen. Alberts Spiel lebt von einfachsten Phrasen, die sich zudem ständig wiederholen, von Pausen, Akzenten, von laut und leise und ganz leise. Dabei schwitzt der King in seiner Unaufgeregtheit doch wie ein Spanferkel. Anscheinend zum Auswringen anstrengend ist es, sich seelisch-musikalisch derart zu veräußern. Erfolg durch Verzicht im wirtschaftlichen KOntext ist die Konzentration auf das, was wirklich erfolgreich macht. Ein unverfettetes Produktportfolio, dafür das auf Lager, was man wirklich beherrscht. Kein organisatorischer Größenwahnsinn, dafür konstant unschlagbare Qualität in allen Prozessen. Weniger Speed, dafür mehr Präzision und weniger Oops! Weniger Stress, mehr Freude. Im Beratungs- und Agenturgeschäft mag Wachstum durch Verzicht vielleicht darin bestehen, dem Kunden wirklich nur das zu empfehlen, was er oder sie essenziell braucht. Ein kühner Gedanke! Nicht einfach alles verkaufen, was aktuell im Regal gammelt und dringend weg muss. Und wer (Achtung: Bandwurmsatz!) schon einmal in die erstaunt geweiteten Augen eines Kunden geblickt hat, nachdem ihm die betreuende Werbeagentur empfohlen hatte, die 200k für die Imagekampagne lieber stecken zu lassen und zum Ausgleich Vierzigtausend Euro mehr in die Unterstützung des Salesteams zu buttern, wer also das mal erlebt hat, der weiß, dass auch hartgesottene Industrie-Marketer Gefühle und dauerhafte Zuneigung zum Ausdruck bringen können.
 
Weniger ist (tatsächlich!) mehr. Am Ende kommt aber mehr dabei raus. Und vielleicht lohnt es sich, in Unternehmensfragen einfach mal an die Prinzipien der Reduktion in Design, der Architektur, Mode oder des Kochens zu denken. Oder sich an den wohl schönsten, behütetsten Moment unseres Lebens zurück zu erinnern: Nur Du und Mutti, und 1,2 Liter Fruchtwasser. Herrlich!


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