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Ist doch alles Pusteblume.

Helmut Schmidt wurde bis auf wenige Tage 97 Jahre alt. Im letzten Jahrzehnt seines hellwachen und nikotinerfüllten Lebens blieb es nicht aus, dass er sich ab und an Fragen rund um seinen offenbar unmittelbar bevorstehenden Tod gefallen lassen musste. Wie er sich denn das Danach so vorstelle (als könne man, wenn man nur nahe genug davorstand, schon mal den einen oder anderen Blick von Drüben erhaschen) und ob er denn dem Ende mit Angst oder mit Hoffnung entgegensähe.
 
Im April 2015, wenige Monate vor seinem Tod, Helmut Schmidt war zu Gast bei Frau Sandra Maischberger, das Thema stand erneut im Raum, mutmaßlich aus Pietätserwägungen am Ende der Sendung. Der Altkanzler antwortete mit großer Klarheit, dass er den Trost, der man aus dem Glauben an ein Leben nach dem Tod möglicherweise ziehen könne, nicht brauche. Und nach einem Räuspern: "Meine Ehefrau Loki war der Meinung, dass... selbst wenn der Mensch verbrannt wird... die Moleküle bleiben die gleichen. Und die Atome bleiben die gleichen. Und eines Tages wird aus ihnen eine Pflanze oder ein Tier, man weiß es nicht. Aber untergehen wird kein Atom. Darin ist ein gewisses Vertrauen in die Zukunft der atomaren Welt..."
 
Aus der Äußerung kann man entnehmen, dass aus Herrn Schmidt kein guter Physiker und ein noch weit schlechterer Chemielaborant geworden wäre. Und doch ist die mit seiner Loki geteilte Vorstellung von einem ewigen Leben als atomarer Humus ein Konzept von großer Tragweite.
 
Stellen wir uns vor, alle Menschen auf Gottes Erdkreis malten sich ihr Ende aus, wie die Schmidts es zu Lebzeiten getan hatten. Keine jenseitige Zwischenwelt, von der man über spirituelle Schleichwege gelegentlich ins Diesseits zurückwinken kann. No hell below us and above us only sky. Keine 70 Jungfrauen für den in Fetzen liegenden Märtyrer. Neinnein, auch kein Nirvana. Nur das Versprechen, für immer und ewig eine feste Rolle zu haben im tosenden Teilchentheater des Universums.
 
Das Ergebnis dieses Denkperiments wäre nicht nur ein Ende jeder Religion, was nicht das Schlechteste wäre, es wäre auch der Beginn einer äußerst heilsamen, kollektiven, weltumspannenden Demut vor allem, was die Natur so vom Band fallen lässt. Und der Beginn von etwas Großem, das selbst die Schwarzer nicht vollständig durchsetzen konnte: ein gemeinschaftliches Gefühl von absoluter Gleichberechtigung. Nicht etwa nur die der Frau vor dem Manne. Auch nicht die des schwulen Paares vor den Heteros. Nicht die der schwarzen Hautfarbe vor der weißen, nicht die der Muslimin vor der Jüdin oder vice versa. Nö, nur die Gleichberechtigung einer Avocado und, nun sagen wir mal, dem Audi-Vorstand. Die Gleichstellung einer weiblichen Stubenfliege mit Vladimir Putin, oder (um auch den Sport zu bedienen) ein Grashalm mit Manuel Neuer auf Augenhöhe.

Es ist nämlich so (und verzeiht mir bitte meine zutiefst naive Annäherung an ein so komplexes philosophisches Thema): Das Dilemma dieser Welt liegt beileibe nicht darin, dass es Menschen gab und gibt, die ihre Rasse über eine andere stellen. Das Schlamassel ist nicht etwa, dass es Menschen einfällt, sich selbst Kraft ihres Amtes, ihrer Fähigkeiten oder auch nur ihrer Automarke eine höhere Bedeutung beizumessen als anderen Menschen. Die wahre Tragödie der Menschheit liegt darin, dass... ja, dass der Mensch, mit wenigen Ausnahmen, sich für wertvoller hält als eine Pusteblume.
 
Pustekuchen! Wer zum Teufel hat uns das eingeredet?! Betrachtet man nämlich einen reifen Löwenzahn mal ganz, ganz genau, nimmt ihn sehr sorgsam unter die Lupe, also jeden einzelnen Samen für sich, so wird man feststellen, dass die gentechnisch unberührte Pusteblume eine runde Sache ist. Nichts zu bekritteln. Atemberaubend designed. Makellos funktional. Eine Ingenieursleistung höchster Güte. Und jetzt lösen wir unseren Blick für einen Augenblick von der Vollkommenheit des Löwenzahns und wenden uns den von Menschenhand geschaffenen Zuständen dieser Welt zu. Augenfällig ein Desaster. Und dahinter siebeneinhalb Milliarden Menschen, von denen gut zwei Drittel stur an dem Glauben festhalten, etwas eindeutig Besonderes in den unendlichen Weiten des Universums zu sein. Einzigartige Individuen, die es zweifellos jede(r) für sich verdient haben, dass sich ein gewisser Herr Gott (in unterschiedlichen Gewändern) ganz persönlich um sie kümmert und ihnen selbstverständlich ein individualisiertes Plätzchen Himmel nach dem Ableben bereithält.
 
Hm.
 
Nein, die lokische Anschauung vom Leben und vom Tod ist da schon wahrscheinlicher, und im Übrigen keineswegs eine nihilistische. Und ja: der Mensch, jeder im Grunde, darf sich zu Lebzeiten mit Fug und Recht für etwas Besonderes halten. Und mitunter bringt der Mensch ja auch mal etwas Einzigartiges, Wunderbares hervor, das sich mit der Vollkommenheit einer Pusteblume halbwegs messen kann. Vielleicht eine Stradivari. Oder einen besonders guten Mohn-Streuselkuchen. Aber am Ende, da beißt die Maus keinen Faden ab, am Ende steht der Verfall, da werden die Atome neu gemischt.
 
Das ist keine schreckliche, das ist eine schöne Vorstellung. Denn der Himmel, den wir uns so angestrengt vorstellen, ist nicht etwa über uns, sondern um uns herum. Wir werden in der Natur aufgehen, ob wir es wahrhaben wollen oder nicht. Als Humus für nachfolgend Gedeihendes zu dienen, hey, das hat schon was! Ein Job, den wir nebenbei bemerkt auch schon zu Lebzeiten ausfüllen können: Andere wachsen lassen. Gute Gedanken pflanzen. Mit Geld, oder mittellos. Egal. Eine schwerreiche Pusteblume in gehoberer Position bleibt eine Pusteblume. Auch wenn sich möglicherweise inzwischen ein einzelnes Atom unseres Altkanzlers Helmut Schmidt beigemischt haben mag.
 
* * (SG 8/2018)

(Illustration: Desna Marleen Wackerhagen)
 



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